Schmerzen um sich selbst zu spüren
Blutige Wäsche ihrer Teenager-Tochter fand eine Mutter immer wieder vor – und sie wusch und wagte nicht, ihr Kind zu fragen: „warum?“. Ein anschauliches Beispiel für selbstverletzendes Verhalten und die Ratlosigkeit Angehöriger, das der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Frank Köhnlein bei einem Vortragsabend in Jestetten schilderte. Referent Dr. Köhnlein ist dafür bekannt, über seelische Probleme von Kindern und Jugendlichen verständlich zu sprechen. Zu dem Vortrag über selbstverletzendes Verhalten eingeladen hatten die beiden Jestetter Schulen, Realschule und „Schule an der Rheinschleife“, mit ihren jeweiligen Fördervereinen. Die Organisation des Vortragsabends hatte Schulsozialarbeiter Daniel Goldberg vom Kreisverband Waldshut des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) übernommen, der an der „Schule an der Rheinschleife“ tätig ist.
Sehr zufrieden zeigte sich Daniel Goldberg über den guten Besuch der Veranstaltung: Eine gute Mischung aus interessierten Eltern und Fachleuten hatte den Weg in den Gymnastiksaal der Gemeindehalle von Jestetten gefunden, darunter auch Lehrer von Jestettens Realschule und von der „Schule an der Rheinschleife“. Fachlich fundiert und dabei immer mit einer Prise Humor sprach Dr. Frank Köhnlein über das ernste und rätselhafte Thema. Er ist Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel und durch seine Romane „Vollopfer“ und „Kreisverkehr“ auch einem breiteren Publikum bekannt.
Dr. Köhnlein, der sich selbst als „Kinderschutz-Fachmann“ bezeichnet, empfahl Eltern und anderen Bezugspersonen, für betroffene Jugendliche da zu sein und zuzuhören. Auf jeden Fall sollte man ohne Vorwürfe das Gespräch suchen, wenn es Hinweise auf selbstverletzendes Verhalten gibt. Neben blutiger Wäsche oder sichtbaren Verletzungen könne das beispielsweise auch lange Bekleidung im heißen Sommer sein. „Was bringt dir das?“, hätte etwa die eingangs erwähnte Mutter fragen sollen. Denn ihre Tochter – so erklärte der Jugendpsychiater - wollte unbedingt, dass ihre Mutter sie anspricht.
Den Zahlen des Referenten zufolge muss man davon ausgehen, dass im Durchschnitt in jeder Klasse mindestens ein Schüler zu finden ist, der sich regelmäßig selbst verletzt. Dabei sind mehr Mädchen unter den Betroffenen als Jungen oder junge Männer. Als „regelmäßig“ gelten mehr als fünf Selbstverletzungen in einem Jahr. Das Ritzen der Haut ist die häufigste Form selbstverletzenden Verhaltens. Jedoch: „Es gibt nichts, das es nicht gibt“ (Dr. Frank Köhnlein). Erfahrungsgemäß mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter schleicht sich das selbstverletzende Verhalten aus als Symptom seelischer Qualen.
Doch darf dies kein Grund sein, die Selbstverletzungen zu ignorieren, die – anders als Tatoos oder Piercings – auf die Schädigung des eigenen Körpers ausgerichtet sind. Denn „Selbstverletzung ist ein Hilferuf“, ist sich Dr. Köhnlein aus langjähriger Erfahrung sicher. Die entscheidende Frage sei „wozu?“. Betroffene berichten, dass sie sich verletzen, um sich selbst spüren. Das wird für kurze Zeit als eine Lösung des Problems empfunden, doch schon bald stellen sich Schuldgefühle oder Selbstekel ein. Ein Teufelskreis.
Oft steckt eine seelische Verletzung oder Erkrankung hinter selbstverletzendem Verhalten. Doch Psychiater Dr. Köhnlein geht auch von bis zu 30 Prozent Betroffenen ohne psychische Grunderkrankung aus. Eltern sollten immer die Bereitschaft haben, zuzuhören und für ihre Kinder da sein. Doch im Zweifelsfall gilt es auch, sich ärztlich beraten zu lassen.
Was kann Betroffenen helfen? Dr. Köhnlein hatte Haushaltsgummis mitgebracht als Beispiel für Methoden, sogenannte „Skills“, die als Alternative zur Verletzung der Hautoberfläche angewendet werden können. Die Zuhörer konnten sich selbst davon überzeugen, wie weh es tut, den Gummi hart auf die Handinnenfläche schnalzen zu lassen. Und doch: Manche der betroffenen Jugendlichen spüren den Schmerz gar nicht, so sehr haben sie zusammen mit seelischen Qualen auch einen Teil ihrer Persönlichkeit „neben sich gestellt“.